Peter Zihlmann
November 2012
In den letzten zwanzig Jahren hat
sich unser Strafjustizsystem rapid verändert, immer mehr hat es sich
losgekoppelt vom System, das Freiheitsstrafe dem Täter gemäss dessen Schuld an
begangener Tat zumisst. Der Massstab war seit Jahrhunderten das Verschulden des
Täters, das in der Tat und aus den Motiven, weswegen es zur Tat kam, zum
Ausdruck kommt. Das Gesetz gab lediglich einen weiten Strafrahmen vor. Seit dem
19. Jahrhundert ist Strafzumessung im Einzelfall verbunden mit einer Innenschau,
einer Analyse der Psyche des Täters. Strafe setzte Schuld und daher auch die
Schuldfähigkeit des Täters voraus. Noch immer gehört es zur richterlichen Norm,
einen Psychiater im Zweifelsfall die Schuldfähigkeit eines Delinquenten
vorgängig abklären zu lassen. Die Frage des Richters an den psychiatrischen
Gutachter war gemäss gesetzlicher Vorgabe: Konnte der Täter das Unrecht seiner
Tat einsehen und hatte er auch die Fähigkeit, gemäss dieser Einsicht zu handeln?
Fehlte ihm die eine oder andere dieser Fähigkeiten, galt er als schuldunfähig
und durfte nicht bestraft werden. Er wurde als Geisteskranker oder
Geistesschwacher in einer Klinik behandelt, meist in einer geschlossenen
Abteilung, also unter Zwang. Es gibt nach wie vor Abstufungen der
Zurechnungsfähigkeit, diese kann auch bloss vermindert sein. Das hat Milderung
der Strafe zur Folge.
Das oberste Prinzip des Strafrechts
war die ausgleichende Gerechtigkeit, weil begangenes Unrecht ausgeglichen und
die Strafe massvoll nach dem Grad des Verschuldens und der Zurechnungsfähigkeit
zugeteilt werden sollte. Der Täter sollte durch die Strafe erklärtermassen nicht
nur bestraft, sondern gleichzeitig auch gebessert das heisst resozialisiert
werden; war er geisteskrank sollte er aufgrund angeordneter Massnahmen
psychiatrisch behandelt werden.
Gegen das Ende des letzten
Jahrhunderts kam durch die Entwicklung der Gesellschaft und ihrer Techniken eine
neue Sicht und Idee auf. Schwere Gewalt- und Sexualstraftaten sollten nicht nur
bestraft, sondern zum vorneherein durch Wegschliessung der möglichen Täter
verhindert werden. Gewalt- und Sexualtaten erregten schon immer das öffentliche
Interesse. Durch die Massenmedien wurde es möglich, die Angst der Bevölkerung
und den Volkszorn durch die Darstellung solcher Verbrechen zu entfachen. Der Ruf
nach mehr Strafverfolgung, härterem Zugriff, Ausbau des Zugriffsinstrumentariums
entsprechend der technischen Entwicklung – Stichwort Lauschangriff und verdeckte
Ermittlungen durch V-Personen – war die logische Folge. Zudem konnte daraus
politisches Kapital geschlagen werden: der Begriff der inneren Sicherheit als
Polizeiaufgabe trat in den Vordergrund. Kriminalität sollte verhindert werden.
Die vorgenommene Erhöhung des Etats an Polizeieinsatzkräften allein konnte
keinen durchschlagenden Erfolg bringen.
Die Idee, Verbrechen zu verhindern
wurde so umgesetzt, dass der Einmal-Straffällig-Gewordene auf seine
Gefährlichkeit für die Gesellschaft untersucht und bei positivem fachärztlichem
Befund unabhängig von seinem Verschulden weggeschlossen werden konnte. Der
Begriff der Gemeingefährlichkeit wurde in der Schweiz im Anschluss an den Mord
eines im Hafturlaub Rückfälligen (sogenannter Zollikerberg-Mordfall) allgemein
bekannt gemacht. Solche Täter sollten auf sehr lange Zeit verwahrt werden,
möglichst für immer. Auf Bestrafung wird dennoch nicht verzichtet. Also müssen
solche Täter ihre Strafe zuerst absitzen, um anschliessend zwangstherapiert oder
– falls sich das als undurchführbar erweisen sollte – verwahrt zu werden. Da es
nicht mehr um Schuld- und Strafzumessung geht, sondern um Wahrung der inneren
Sicherheit, ist der Bezug zur Gerechtigkeit überhaupt in Frage gestellt: Der
gefährliche Täter muss der Gesellschaft das Opfer seiner Freiheit bringen, damit
diese sicher bleibt.
Aus solcher Praxis heraus und ohne
gesetzliche Grundlagewurde eine Institution zur Bestimmung der
Gemeingefährlichkeit der Delinquenten geschaffen, die sogenannte Fachkommission
zur Überprüfung der Gemeingefährlichkeit von Straftätern. Darin
nehmen Beamte Einsitz, die in irgendeiner Funktion mit dem bisherigen
Strafvollzug zu tun haben: Gefängnisdirektoren, Staatsanwälte, Strafrechtler bis
hin zu Beamten aus dem Strafvollzug. Die wichtigste Funktion in diesen
Dunkelkammern übernehmen wie selbstverständlich die Psychiater. Die
Fachkommissionen erteilten „unverbindliche Empfehlungen“ zuhanden der
Strafrichter. Die Mitglieder dürfen den Täter weder behandelt haben noch ihn nur
kennen. Es wird regelmässig aufgrund der Akten entschieden; auf
Antrag kann der Betroffene ausnahmsweise von der Kommission angehört werden. Die
Einbahnstrasse für Verwahrungen ist signalisiert. Der Damm der
Rechtsstaatlichkeit ist gebrochen.
Die Psychiater scheinen sich nicht
daran zu stossen, dass sie in den Dienst eines sich technokratisch
organisierenden Polizei- und Wegsperrapparates gestellt werden. Geblendet durch
die ihnen zugeteilte Macht entwickeln die besten Forensiker sogar Systeme,
die künftiges, deliktisches Verhalten eines Menschen, denen sie
eine Störung attestieren, angeblich voraussagen können, mit
höherer Wahrscheinlichkeit als Meteorologen das Wetter. So verlieren Menschen
ihre Freiheit auf Jahrzehnte. Die Forensiker scheint es nicht zu kümmern, dass
sie ihrer ärztlichen Aufgabe entrückt und als Vollzugsgehilfen des
Sicherungssystems eingesetzt werden; einige unter ihnen sonnen sich öffentlich
in der Aura ihrer Macht und verraten so ihre eigene schwere narzisstische
Persönlichkeitsstörung. Sie taxieren die ihnen vorgeführten Menschen und
entscheiden über deren Freiheit aufgrund ihrer Prognose. Sie sind zu modernen
Schamanen geworden. Formell geben sie nur eine Empfehlung ab, anderseits fühlt
sich der Richter durch die Empfehlung gebunden und entlastet. Ein von aussen
unangreifbares System. Wer keinen Charakter hat, hat wenigstens ein
System.
Unabhängig und selbständig
arbeitende Psychiater, die dieses System kritisieren und im Auftrag der
Verurteilten abweichende Stellungnahmen im Einzelfall abgeben, werden als
Nicht-Forensiker, als halbe Laien verlacht und deren Gutachten unbeachtet
gelassen. Nur der Forensiker ist ein Forensiker ist ein Forensiker, andern wird
kein Fachverstand zugebilligt. Ein perfektes, weil selbstreferentielles System
mit Monopolcharakter. Die Forensiker sprechen nicht mehr von Geisteskranken oder
Psychopathen, das ist gegen die Political Correctness. Das neue Zauberwort ist
die „Persönlichkeitsstörung“, ein Begriff kühn zwischen Krankheit und
Kriminalität hineingezwängt zur Sicherung der inneren Sicherheit. Das Mittel
derartige Störenfriede wegzusperren ist das Gefährlichkeitsgutachten eines
Forensikers. Der als mangelhaft erkannte Einzelne, der Gemeingefährliche, hat
die Konsequenzen zu tragen. Ihn trifft keine Schuld, aber er hat die Tat zu
verantworten und die Massnahme trifft ihn schlimmer und härter als jede Strafe.
Sie ist ohne zeitliches Ende, unangemessen, unverhältnismässig zu seinem Tun,
schlicht endlos und lässt ihm keine Hoffnung. Einzig die verräterische Tür zur
Therapie scheint als letzter Ausweg noch offen, solange der Gutachter ihm nicht
Untherapierbarkeit attestiert hat. Dem Gutachter ist „der Klient“ auf Gedeih und
Verderb ausgeliefert. Das Machtgefälle zwischen den beiden ist kaum kleiner als
jenes zwischen Herr und Knecht.
Das Massnahmenrecht wurde 1994/2007
neu konzipiert. Der Begriff der Geistesschwachen oder Geisteskranken verschwand
ebenso wie jener der Psychopathen oder Gewohnheitsverbrecher alter Schule. Es
gibt jetzt vor allem neu und zusätzlich Täter mit Persönlichkeitsstörungen,
eingeteilt in ein Klassifikationssystem der Psychiater, das alles umfasst vom
Schwachsinn bis zum Wahnsinn nach Eugen Bleuler und Ernst Kretschmer, den
„Altmeistern“ der Psychiatrie. Im Einzelfall gehen die „schweren
Persönlichkeitsstörungen über jeden Krankheitsbegriff weit hinaus. Die
Forensiker sprechen nun nicht mehr von Patienten, sondern von Klienten. Ob krank
oder nicht spielt keine Rolle mehr, Hauptsache, der als schwer gestört Taxierte
kann weggesperrt werden. Diesen zynischen Zugang nennen die Forensiker
„pragmatische Problemlösung“.
Das vom Strafrichter ausgesprochene
Strafmass ist für die zusätzlich zu verhängende Massnahme unerheblich. Der
Grundsatz der sonst so hoch gehaltenen Rechtskraft eines Urteils wird gebrochen.
Der Psychiater kann aufgrund seiner Beurteilung Verwahrung empfehlen und der
Richter wird sie jederzeit als „nachträgliche Verwahrung“ nach deutschem Vorbild
verfügen. Jedes Strafurteil wird durch diese Öffnung zur Psychiatrie in seinem
Strafmass unsicher und nach oben hin ins Unabsehbare erweitert. Es ist nur noch
ein Fetzen Papier in der Hand der Psychiater und des Strafvollzugs. Die Frage an
den Menschen ist nicht mehr mit nach rückwärts gewendetem Blick in die
Vergangenheit an ihn selbst gestellt. Sein mögliches, wahrscheinliches Verhalten
in der Zukunft wird aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur von einer Fachperson
eingeschätzt. All das kann geschehen, solange der Anlasstäter im Straf- oder
Massnahmenvollzug ist und – wie die Gerichtspraxis zeigt – sogar noch
danach!
Das Institut der nachträglichen
Verwahrung wurde aus praktischen Gründen scheinbar beiläufig eingeführt. Solange
ein Täter im Straf- oder Massnahmevollzug festsitzt, kann der Richter in
Abänderung seiner rechtskräftigen Urteile ohne neue Tat nachträglich Verwahrung
anordnen. Die Täter sehen sich nach Ende der Strafe plötzlich und ohne jede
Schuld mit einer von ihnen keineswegs verschuldeten Fortsetzung des
Freiheitsentzuges – diesmal ohne Zeithorizont –
konfrontiert.
Der Weg zum lebenslänglichen
Weggesperrtwerden erfolgt oft zuerst unauffällig durch die richterliche
Anordnung einer harmlos anmutenden ambulanten Psychotherapie.
Von Gesetzes wegen ist diese
jederzeit umwandelbar in eine stationäre Therapie, wenn Probleme entstehen.
Dieser Drohfinger kann vom Therapeuten gegenüber Betroffenen jederzeit erhoben
werden. Die Umwandlung in eine stationäre Massnahme, jeweils um drei gegenüber
Süchtigen bzw. fünf Jahre gegenüber Personen mit schwerer
Persönlichkeitsstörung, wird verständlicherweise in der Praxis als „kleine
Verwahrung“ bezeichnet. Eine hilfreich erscheinende, wenig einschneidende
Massnahme wird nachträglich ohne neues Delikt zu einem Freiheitsentzug ohne
Ende. Eine maximale Dauer, ein Ende, ist nicht festgelegt. Es gibt sie nicht.
Dies alles ist mehr als nur eine
Fehlleistung des Gesetzessystems. Es ist ein epochaler Irrtum. Mir sind Fälle
bekannt, wo noch nach 20 Jahren Therapien fortgeführt werden sollen (z.B. die
Fälle Hugo Portmann und Hans-Peter Eggenberger). Gigantische Therapiekosten
werden zulasten der Krankenkassen und Steuerzahler angehäuft.
Der Mensch wechselt so vom
Strafrichter in die Gewalt der Psychiater, die sich in den Dienst des
Strafvollzugs gestellt haben. Verhinderung künftiger Verbrechen ist das Ziel.
Die Unschuldsvermutung ist ausser Kraft gesetzt, nicht nominell, aber im
Ergebnis. Es braucht keine Schuld, sondern nur vom Gutachter attestierte
„Gefährlichkeit“ des Täters. Die Rechtskraft des einmal über den Täter und seine
Anlasstat ausgesprochenen Urteils lähmt den Psychiater, dieses „Vorurteil“ bei
der Beurteilung der Person grundsätzlich in Frage zu stellen. Wer seine ihn
angelastete Tat weiterhin leugnet, ist ein Hartgesottener, ein Widerspenstiger,
ein Renegat, er ist uneinsichtig, ohne Reue und ohne Krankheitseinsicht und gilt
als untherapierbar: Unschuld als Systemfehler und Restrisiko! Ihm droht
Zwangsmedikation und vor allem ganz konkret Verwahrung – ihm, dem vielleicht
wirklich Unschuldigen! Soweit wollen Forensiker gar nicht denken; sie dürfen es
aus der Sicht des juridischen Systems auch gar nicht.
Gerade deswegen ist und bleibt das
grösste Problem dieses Systems der Nicht-Geständige (vergleiche dazu „Der Fall
Hassan Mansour“). Wer sich der Therapie widersetzt, namentlich weil er
bestreitet, die Tat begangen zu haben, gilt bei hartnäckiger Weigerung
als nicht therapierbar. Der Widerspenstige hat seine letzte Chance
in den Augen des Forensikers verspielt und wird verwahrt. Das System ist logisch
geschlossen und wird denn auch von sportlich-aggressiv veranlagten Forensikern
durchgeboxt ohne Rücksicht auf Verhältnismässigkeit, Verlust des Augenmasses und
der Mitmenschlichkeit. Das alles geht leicht von der Hand der Machthaber: Der
Therapeut empfiehlt eine Massnahme, der überlastete Richter segnet sie ab und
einer von ihnen unterzeichnet als erster das Urteil. Das ist noch kein fertiger
Entscheid und zudem liegt eine als verbindlich empfundene Empfehlung der
Fachkommission vor. Schliesslich unterzeichnen die andern Richter mit. Ein
klarer Fall. Hauptsache bleibt zudem, der Störenfried wird unschädlich gemacht
und es kann nichts passieren, was die Öffentlichkeit gegen das System und die
Amtsträger aufbringen könnte. Es besteht immer eine geheime Verbindung zwischen
Führung und Geführten, zwischen Führer und Volk.
Die Richter passten sich dem neu
entstandenen Sicherheitsapparat erstaunlich widerstandlos an und dienten
ihm zu und folgten ausnahmslos den Empfehlungen der
Fachkommissionen und Forensiker. Allzu willfährig verhafteten sie Täter, die
ihre Strafe oder Massnahme bereits abgesessen hatten oder liessen sie selbst
nach Ablauf der Strafverbüssung nicht mehr in Freiheit. So scheint es nicht
einmal mehr nötig zu sein, für rechtzeitige richterliche Verlängerung der
Massnahmen zu sorgen. Die einmal Verurteilten werden vorsorglich in Haft
behalten. Als Deckmantel diente der neu geschaffene Begriff des sogenannten
„Nachverfahrens“ oder der Sicherungsmassnahme zur Durchführung einer in Zukunft
zu erwartenden Massnahme. Der Erfindungsgeist der Richter war plötzlich
beachtlich angeregt. Die gesetzliche Grundlage hauchdünn und der Eingriff in den
Kernbereich der Persönlichkeitsrechte des Betroffenen in eklatantem Widerspruch
zum Grundrecht. Das Rechtsgut der Freiheit war für
Einmal-Straffällig-Gewordene abgeschafft. Das Bundesgericht segnete den
menschenrechtswidrigen Freiheitsentzug mutlos ab. So kam es im Jahr 2010 zur
Verurteilung der Schweiz im Fall Borer durch die EMRK-Richter in Strassburg.
Daraufhin stellt das Bundesgericht die Rechtswidrigkeit der Haft in solchen
Fällen zwar fest. Aber es fällt niemandem auch nur im Traum ein, den
Unrechtmässig-in-Haft-Behaltenen in die Freiheit zu entlassen. Einzig
entscheidende Tatsache bleibt für das Gericht, dass der Verhaftete eine Gefahr
für die Öffentlichkeit darstellt. Durch eine solche Haltung bricht jeder
Rechtsschutz des Einzelnen in sich zusammen. Der Rechtsstaat Schweiz
ist schwer beschädigt. Mit wenigen Ausnahmen (z.B. Günter
Stratenwerth und Peter Albrecht, beide in Basel) liessen sich auch die
Rechtswissenschaftler populistisch in den Dienst der Ideologien der Polizei- und
Sicherheitsdepartemente stellen.
Die Medien realisierten rasch, dass
die Auflagenzahl und Aufmerksamkeit des Lesers und der Öffentlichkeit besser zu
steigern waren, wenn der Volkszorn, der sich gerne an schrecklichen Verbrechen
entzündet, durch Darstellung der Täter als Unholde, Sexmonster und Teufel als
wenn sie auf den Abbau der fundamentalen Freiheitsrechte im Rechtsstaat
hingewiesen hätten. Erst wenn der Einzelne direkt oder ein naher Verwandter oder
Freund von ihm von der Strafsucht oder dem Sicherheitsfanatismus der
Gesellschaft erfasst wird, realisiert er, welche Schäden diese Raserei
angerichtet hat. Die Medien haben ihr Wächteramt als vierte Staatsgewalt auf
weiten Strecken vernachlässigt und peitschen rücksichtslos auf die Richter ein
und nehmen sie in Geiselhaft, sobald ein Rückfall in die Kriminalität ruchbar
wird. Die Richter, welche nicht drakonisch hart bestrafen oder auf Lebenszeit
verwahren werden als lasch, mutlos oder gar als Mitschuldige angeprangert. Ihre
massvollen und mit Augenmass zugemessenen Strafen werden von Journalisten gerne
als „Kuscheljustiz“ verächtlich gemacht. Bei Rückfalltaten wird sogar versucht,
jene, die einem Hafturlaub oder einer (meist bedingten) Entlassung zugestimmt
haben, zur Verantwortung zu ziehen wegen fahrlässiger Tötung, falls es dazu
gekommen ist.
Diese Schlaglichter auf die heutige
Situation des Straf- und Massnahmerechts zeigen auf, dass zurzeit ein Übergang
vom seit Jahrhunderten gefestigten Schuldstrafrecht zum präventiven Wegsperren
als Polizeimassnahme zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit stattfindet.
Die Öffentlichkeit scheint nicht bemerkt zu haben, dass es sich um einen
eigentlichen Paradigmenwechsel handelt. Das Recht fragt nicht mehr danach: Was
hat du getan? Wie schwer wiegt deine Schuld? Aus welchen Motiven hast du deine
Tat begangen? Die neue Frage lautet: Wie gefährlich ist dieser Mensch? Die
Antwort muss die Fachperson, die Kennerin der menschlichen Seele geben, der
Psychiater. Vor ihm verblasst die einmal real verübte Tat des Verbrechers zur
blossen Anlasstat, an die sich sein alles entscheidende Gutachten
eher beiläufig anschliesst. Das hat schwerwiegende Folgen.
Wir verlieren aus den Augen, dass
sich ein solches Wegschliesssystem von jenem einer Diktatur oder einem
totalitären Staat nicht mehr grundlegend unterscheidet. Menschen verlieren ihre
Freiheit, nicht weil sie etwas getan haben, sondern weil sie als gefährlich
eingestuft werden, also weil sie in Zukunft etwas tun könnten. Das ist letztlich
Gesinnungsstrafe. Und wir als Volk schlucken das alles, weil es so gut
institutionalisiert im Gewand der Wissenschaftlichkeit daherkommt. Nur weil die
Menschen, die in den Gefängnissen und geschlossenen Anstalten auf Vorrat in Haft
gehalten und zwangstherapiert werden, keine Stimme haben, funktioniert das
System nach aussen hin. Immerhin dringt durch die Gefängnisdirektion und aus
deren Umfeld genügend nach draussen, damit jeder verantwortliche Mensch das
Unrecht, das heute an diesen Menschen geschieht, wahrnehmen kann. Aber wen
interessiert das heute? Kaum je hat sich eine Gesellschaft für das Unrecht ihrer
eigenen Zeit gekümmert, während sie immer wieder sich entschuldigt für das
Unrecht vergangener Generationen – ein schwacher Trost für die unter dem System
Leidenden.
Damit ist eine neue Stufe der
Expertokratie erreicht worden. Gleichzeitig ist es ein Rückfall in überwunden
geglaubte Abgründe und Schreckenszeiten. Der Mensch wird wieder vermessen wie
seinerzeit gestützt auf die Erkenntnisse durch Johann Caspar Lavater nach seiner
Lehre der Physionomik von Cesare Lombroso im vorletzten und zu Beginn des
letzten Jahrhunderts, der nach der Schädelform und der Ausformung von Nase und
Stirn den geborenen Verbrecher zu erkennen glaubte. Die Technik erlaubt es
jetzt, tiefer in den Menschen zu dringen, mit Hightech unter seine Schädeldecke
zu kriechen. Gleichzeitig wird dem Volk vorgegaukelt, die Psychiatrie könne eine
zuverlässige Gefährlichkeitsprognose über einen konkreten Menschen abgeben. Sie
wird zur exakten Wissenschaft hochstilisiert, um zu rechtfertigen, dass Menschen
aufgrund solcher Gutachten ihre Freiheit auf lange Jahre, meist für immer
verlieren können. Mit Computersystemen werden Checklisten erstellt und einem
pseudowissenschaftlichen Brimborium wird exaktes Wissen über zukünftiges
Verhalten dieser Probanden vorgetäuscht wie z.B. mit dem
Forensisch-operationalisierten-Therapierisiko-Evaluationssystem FOTRES des Frank
Urbaniok in Zürich. Dabei können Prognose des menschlichen Verhaltens und die
darauf fussenden Zwangsmassnahmen immer nur eines sein: Blick in die Glaskugel
der Wahrsagerin oder menschliche Hybris und kaltes technokratisches Ausschalten
des als minderwertig oder mangelhaft erkannten Menschenmaterials mittels der
Triage. Wir haben diese Systeme in der ersten Hälfte des vergangenen
Jahrhunderts aufs Schaurigste erlebt. Wieder scheinen sich Viele nach dieser
Scheinsicherheit einer - diesmal nicht reinrassigen – aber
wenigstens von gefährlichen, gestörten Persönlichkeiten gesäuberten
Gesellschaft, zurückzusehnen. Das Problem eines solchen Systems ist es nicht,
dass es immer wieder in Einzelfällen zu belegbaren Justizirrtümern kommen wird.
Selten wird sich das eindeutig beweisen lassen. Das Problem ist umfassender. Wir
beurteilen nicht mehr die Taten, sondern wir unterziehen die Straftäter einer
eigentlichen Selektion mit Blick auf ihr zukünftiges, von Forensikern
eingeschätztes Verhalten. Das ist ein Rückfall in überwunden geglaubte
Abgründe. Die Forensiker, die sich anheischig machen, die
Wahrscheinlichkeit des Rückfalls ihrer Klienten in Delinquenz vorauszusehen,
sehen nicht einmal ihren eigenen Rückfall in schlimmes, ideologisches Denken und
Handeln.
Wie konnte es nur zu
diesem Rückfall in die alte Barbarei kommen, zu versuchen die Bösen aus dem
gesunden und guten gesellschaftlichen Körper zu
entfernen?